Kleine Burgenkunde
Die Übersicht ist meine Lieblingsansicht. Ihr Blick aus der Ferne macht Zusammenhänge zwischen Orten erkennbar und Strukturen eines Raumes leicht ablesbar. Jener Raum ist jedoch ein anderer. Denn vom Beobachterstandpunkt aus ist es mir nicht möglich aktiv am Geschehen teilzunehmen. So ist der Blickwinkel der Übersicht nicht einer des Entweder-oder, sondern einer des Weder-noch, bei dem alles richtig ist, weil man nicht auf einer Seite steht. Die Arbeiten brauchen keine Ein- oder Durchgänge, denn die Burg ist das Synonym für die Idee eines geschlossenen, alles (nötige) beinhaltenden Raumes. Ihr Wesen ist das einer Siedlung, eines Schutzraumes für ihre Bürger und damit ein Funktionsraum der als Beispiel für den Aufbau von Räumen im allgemeinen dienen kann. Dabei steht die Gruppe der Burgen für Raumerweiterung und die Gruppe der Festungen für Raumteilung - in beiden Gruppen gibt es Beispiele für Raum an Raum, Raum im Raum oder Raum und Raum.
Der typische Standpunkt der Burgen ist ein Strategieort mit dem dafür nötigen Überblick; von hier aus kann man die Aussicht genießen. Doch zur Erfassung eines Raumes benötigt man mindestens zwei Ansichten; und so kommt zu der Überlegung der Differenzierung von Räumen, die der Ansichten hinzu. Viele Ansichten geben ein genaues Bild; dabei kann es zu unterschiedlichen Standpunkten kommen. Zwei Seiten können miteinander verbunden werden; man kann sie trennen oder einfach nur aufzeigen. Von der einen Ansicht muss die andere Seite weder einsehbar noch ablesbar sein. Es gibt keine falsche oder richtige Seite und doch muss der Betrachter eine Position einnehmen um eine Ansicht zu erfassen., die ihm wiederum den Blick auf das Gesamte verweigert.
Die Übersicht wird so auch zu jener Hilfestellung, die zur Vorstellung einer Situation oder als Zusammenfassung erstellt wird, um Dinge zu ordnen oder zu gliedern und sie so in ein stimmiges Verhältnis zueinander zu setzen.
Sind bei der Burgen und Festungen vor allem die beiden Blickrichtungen Ansicht und Aufsicht thematisiert, dominiert bei den Beispielen für moderne Formen der Siedlung vor allem die Standpunkte Vorder- oder Rückansicht. Bei der Bettenburg wird (durch die Transparenz der Fassade) aus einem rückseitigen Einblick ein Durchblick und somit ein Ausblick. Die Vorderansicht, die gegensätzliche Blickrichtung, deutet jedoch durch die "Balkone" die gleiche Aussicht an. Es gibt somit weder eine Hauptansicht noch einen idealen Standpunkt. Die verschiedenen Ebenen unterstützen diese Idee und sind gleichzeitig eine Erweiterung in der Überlegung über Raumstrukturen, was in den Arbeiten von Türkise Siedlung mit ihren gleichförmigen Etagen nochmals aufgenommen wird.
Jutta Widmer 2001